Warum queersensible Pflege überlebenswichtig ist
In der Pflegewelt unsichtbar zu sein, bedeutet für viele queere Menschen im Alter eine erschreckende Realität. Während das Alter ohnehin mit Unsicherheiten und Abhängigkeiten einhergeht, sehen sich LSBTIQ*-Menschen oft mit einer zusätzlichen Bürde konfrontiert: der Notwendigkeit, ihre Identität zu verstecken.
Schätzungen zufolge gehören rund 1,8 Millionen Menschen über sechzig Jahren in Deutschland zur LSBTIQ*-Gemeinschaft. Trotz dieser hohen Zahl bleibt ihre sexuelle Orientierung oder Geschlechtsidentität in vielen Pflegeeinrichtungen unsichtbar. Statistiken zeigen, dass 85,9 Prozent der pflegebedürftigen queeren Menschen ihre Pflegekräfte nicht über ihre Identität informieren – aus Angst vor Diskriminierung oder Stigmatisierung. „Es darf nicht sein, dass Menschen im Alter erneut mit der Angst leben müssen, ihre wahre Identität zu verbergen“, sagt Andreas Schütz, Gründer von Queer-Pflege.de.
Unsichtbarkeit als Risiko
Das Problem der Unsichtbarkeit ist nicht nur ein emotionales, sondern auch ein physisches Risiko. Queere Menschen, die ihre Identität verschweigen, erhalten oft nicht die Pflege und Alltagshilfe, die sie wirklich brauchen. Sei es die Anerkennung nicht-traditioneller Familienstrukturen oder der bewusste Umgang mit gesundheitlichen Aspekten, wie etwa bei trans* Personen nach geschlechtsangleichenden Operationen oder bei HIV-positiven Senior_innen – queere Pflegebedürftige benötigen mehr als nur körperliche Pflege.
Viele queere Senior_innen haben ihr Leben damit verbracht, gegen Diskriminierung anzukämpfen, und stehen nun im Alter vor neuen, erschreckenden Herausforderungen. Besonders schmerzhaft sind die seelischen Wunden, die sie aus Zeiten mitnehmen, in denen Homosexualität strafbar war oder sie von ihren Familien verstoßen wurden. Diese Lebensrealitäten müssen in der Pflege berücksichtigt werden.
Queere Pflegekräfte können Brücken bauen
Auch queere Menschen, die in der Pflege arbeiten, sind oft gezwungen, ihre Identität zu verbergen. Dies führt nicht nur zu persönlichem Stress, sondern auch dazu, dass wichtige Ressourcen für die Pflege anderer LSBTIQ*-Personen ungenutzt bleiben, denn sie bringen ein besonderes Verständnis für die Bedürfnisse der Community mit.
„Queere Pflegekräfte sind ein unverzichtbarer Bestandteil einer inklusiven Pflegelandschaft“, betont Andreas Schütz. „Sie bringen nicht nur ihre professionelle Expertise ein, sondern auch ihre persönliche Empathie, die für queersensible Pflege und Alltagshilfe so wichtig ist.“
Die Entstehung von Queer-Pflege.de
Aus der Notwendigkeit heraus, diese Lücke zu schließen, entstand Queer-Pflege.de. Die Plattform, die im März 2023 online ging, bietet LSBTIQ*-Personen eine zentrale Anlaufstelle, um Alltagshilfe, Pflegedienste, Beratungsstellen und Pflegeeinrichtungen zu finden. Andreas Schütz: „Immer wieder wurde ich gefragt, ob ich Pflegeeinrichtungen kenne, die queersensibel arbeiten“, erzählt er. „Es war frustrierend, keine konkreten Empfehlungen geben zu können, weil es keine zentrale Plattform gab, auf der solche Informationen gesammelt wurden.“
Queer-Pflege.de bietet eine einfache Möglichkeit, nach Pflegeeinrichtungen und -diensten zu suchen und gleichzeitig die Community zu stärken. Besonders wertvoll: Hilfsgesuche können direkt innerhalb der Community veröffentlicht werden, wodurch auch ehrenamtliche Unterstützung möglich wird.
Ein Beispiel für die Bedeutung der Plattform ist eine Erfolgsgeschichte, die Andreas besonders bewegt hat: Ein sehbehinderter Mann suchte jemanden, der ihm beim Vorlesen und bei Spaziergängen hilft. Über Queer-Pflege.de fand er innerhalb von drei Wochen jemanden aus der Community, der ihm diese Hilfe anbieten konnte.
Eine inklusivere Pflegezukunft
„Es geht nicht um eine Sonderbehandlung von queeren Menschen in der Pflege“, erklärt Andreas. „Es geht darum, dass sie dieselbe Würde, Akzeptanz und Unterstützung erhalten wie alle anderen.“ Mit Initiativen wie dem Qualitätssiegel „Lebensort Vielfalt“ und dem AWO-Projekt „Queer im Alter“ gibt es bereits erste Schritte in die richtige Richtung. Doch es bleibt noch viel zu tun, um queersensible Pflege flächendeckend zu etablieren.
Titelbild: Pexels/cottonbro studio